“In einem Land, das es nicht mehr gibt”: So lebendig war die Modeszene der DDR (2024)

Heute (6. Oktober 2022) startet der Film “In einem Land, das es nicht mehr gibt” in den deutschen Kinos, der die Szene rund um die DDR-Modezeitschrift “Sibylle” beleuchtet. VOGUE spricht mit Ute Mahler und Grit Seymour - zwei ihrer damals wichtigsten Protagonistinnen

Claudia, Naomi, Linda – bei dieser Generation international berühmter Supermodels reichen Vornamen zur Identifikation. In Ute Mahlers Archivraum im Keller ihres Hauses im brandenburgischen Lehnitz, einem Dorf mit 3900 Einwohnenden nördlich von Berlin, sind viele der Abzüge ebenfalls nach den Vornamen ihrer Models sortiert. Nur heißen sie hier Jutta, Petra oder Ulrike – und sind heute nicht mehr als unsterbliche Modeikonen bekannt. Zu Unrecht. Mahler, mittlerweile 72 Jahre alt, die später vor allem Reportagen und Porträts fotografierte und 1990 die renommierte Berliner Fotoagentur Ostkreuz mitgründete (unter anderem mit ihrem Mann, Fotograf Werner Mahler), zählte in der DDR zu den erfolgreichsten Modefotograf:innen und arbeitete als solche viel für die „Sibylle, Zeitschrift für Mode und Kultur“, herausgegeben vom Modeinstitut der DDR. Wer jetzt mit seinem westdeutschen Selbstbewusstsein davon ausgeht, dass da ja außer systemkonformen Synthetikkostümen und Hemdkleidern von der Stange wenig los gewesen sein kann, der irrt. Menschen aus der ehemaligen DDR nicken dagegen sicher heftig. Die Seiten der „Sibylle“ zeigten anspruchsvolle Modeentwürfe, auffallend modern inszeniert – an Frauen, die niemals wie unerreichbare Objekte präsentiert wurden, sondern Leserinnen eine echte, realistische Inspiration waren.

„In einem Land, das es nicht mehr gibt“: Ein Film über die viel zu unbekannte Modeszene der DDR

Der neue Spielfilm „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ beleuchtet nun dieses wenig bekannte Kapitel deutscher Modegeschichte. Drehbuchautorin und Regisseurin Aelrun Goette, die selbst einst als Model auf den Seiten der „Sibylle“ zu sehen war, erzählt darin die Geschichte der jungen Suzie, gespielt von der Newcomerin Marlene Burow, die zufällig als Model entdeckt wird. Über die Redaktion der „Sibylle“ lernt sie die schillernde (Mode-) Szene im Ostberliner Underground kennen und bekommt die Chance, dem sozialistischen Fabrikalltag vielleicht doch noch zu entkommen. Im Film finden sich nicht nur Goettes eigene Erfahrungen wider, auch Teile der Biografie ihrer ehemaligen Modelkollegin Grit Seymour sind dort eingearbeitet. Die spätere Modedesignerin und -professorin, die seit 2016 an der HTW Berlin lehrt, hat den Film außerdem in Mode- und Kostümfragen beraten. In Lehnitz sitzen wir an einem heißen Augustnachmittag bei von Werner Mahler gekochtem Kaffee, der nebenan Prints der Mahlers für ihre kommende Ausstellung beschneidet, im wunderschön grünen Garten des Fotografie-Paares und plaudern mit Grit Seymour über die Zeit vor der Wende – und warum die zum kreativen Arbeiten auch Vorteile hatte.

Grit Seymour (hinten), hier von Werner Mahler fotografiert, mit Kathrin Gömann im Prenzlauer Berg (für "Sibylle", 1986)

© Werner Mahler/OSTKREUZ

Ute Mahler und Grit Seymour im Interview über die Modeszene der DDR, die Wende und warum Arbeiten für die “Sibylle” ein Stück Freiheit bedeutet hat

VOGUE: „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ wirft Licht auf die Modeszene der DDR. Warum erst jetzt?

Ute Mahler: Seit der Wiedervereinigung ist viel Zeit verstrichen. Etwas mehr über dieses doch noch unbekanntere Land zu erfahren war wahrscheinlich nicht so das Bedürfnis. Und es ist immer einfacher, dieses Gut-Böse zu erzählen. Die DDR war weit vielschichtiger, als oftmals überliefert wird. Wir waren 17 Millionen Einwohner:innen; 17 Millionen Leute werden Ihnen eine andere Geschichte davon erzählen, wie sie das empfunden haben. Diese ist eine davon. Die junge Szene, die wir im Film sehen, hat nicht im luftleeren Raum gelebt. Aber sie hatte Lust, etwas anderes zu machen, individuell zu sein. Es ist ja überall auf der Welt so, dass sich die junge Generation absetzen will von der älteren und einen eigenen Standpunkt finden will. Aber damals ging es nicht nur um das Anderssein als die Eltern, sondern auch noch darum, anders zu sein, als das Land oder die Regierung es erwartet. Das war also gleich zweimal eine Opposition, der sie sich in einer sehr kreativen und charmanten Art und Weise gestellt haben.

VOGUE: Man lernt außerdem, dass es neben der Standardmode aus der Handelsorganisation in der DDR auch eine Art High-Fashion-Linie gab: den Handelsbetrieb Exquisit, bei dem Sie auch einst eine Schneiderinnenlehre absolvierten, Frau Seymour.

Grit Seymour

Sven Görlich / www.svengoerlich.com

Grit Seymour: Exquisit hat fantastische Sachen gemacht und ist meiner Meinung nach immer noch ein blinder Fleck in der deutschen Modegeschichte. Da sind so viel Herzblut, Lebenszeit, Kraft und Können vieler Menschen reingegangen. Es gab wirklich geniale Ideen in diesem Rahmen, in dem man ja ohnehin sehr viel erfinderischer sein musste, um das eigentlich Unmögliche möglich zu machen. Es gab nicht diese Vielfalt wie im Westen. Es gab das eine Unternehmen Exquisit, das 1970 gegründet wurde und den gehobenen Bedarf der Bevölkerung decken sollte – und das auch tat. Es war ein Riesenerfolg, von Tag eins an wurden schwarze Zahlen geschrieben. Und das, obwohl die Preise im Vergleich zum Einkommen sehr hoch waren.

Ute Mahler: Auf den Konten der DDR-Bürger und -Bürgerinnen lag ja sehr viel Geld. Die Grundnahrungsmittel und Mieten waren extrem billig, die waren subventioniert. Man konnte nicht richtig reisen, Häuser konnte man nicht kaufen, man konnte eigentlich gar nicht viel kaufen. Und so war es ökonomisch eine clevere Idee, durch gehobene Mode diese schlafenden Gelder abzuschöpfen.

VOGUE: Was haben Sie davon mitbekommen, wie genau die Politik in die DDR-Modebranche involviert war?

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